AUFTOUREN 2017 – Das Jahr in Tönen

Wie sah das Jahr 2017 in Tönen für uns aus? Die Antwort auf diese Frage war noch ein gutes Stück mehr als sonst eine Überraschung.

Wer von uns hätte schließlich zuvor gedacht, dass Mount Kimbie vom absteigenden Post-Dubstep-Ast auf einen bestechenden neuen Post-Punk-Weg finden würden? Dass Slowdive ein in vielen Augen noch besseres Shoegaze-Comeback als My Bloody Valentine gelingen würde? Oder dass The War On Drugs zum dritten Mal in Folge zu unseren Jahres-Favoriten gehören würden? Na gut, Letzteres war angesichts der langjährigen Fans im Team vielleicht so vorhersehbar wie schneelose Weihnachten, aber wer unsere diesjährigen Top 10 im Voraus korrekt getippt hatte, sollte sich schnellstmöglich mal an einem großen Lotto-Jackpot probieren.

Viel Spaß beim Lesen und Hören!


50

Japanese Breakfast

Soft Sounds From Another Planet [Dead Oceans]

Seitdem „Psychopomp“ in nur wenigen Monaten vom Kleinstlabel-Geheimtipp zur internationalen Verbreitung fand, schien Michelle Zaunier zwischen all den Touren, Konzerte, Festivals und noch mehr Touren jen- und diesseits des Atlantiks keine Pause zu finden. Dennoch gelang ihr mit „Soft Sounds From Another Planet“ nicht nur ein klanglich ambitionierteres Nachfolgewerk, sondern auch die nötige innere Distanz zu ihrem ersten Studioalbum, auf dem sie den Tod ihrer Mutter verarbeitete. Zauniers textliche Ernstigkeit ist ungebrochen, wenn sie in „This House“ die verwirrende Rückkehr zur Normalität nach einem Tourende oder in „Body Is A Blade“ das Loslösen vom Trauma zeigt. Vor allem aber beweist Zaunier in Songs wie „Road Head“ oder dem Titelstück, die auf ältere Lo-Fi-Entwürfe zurückgreifen, dass sie die Klangvisionen in ihrem Kopf nun in aller Pracht ausformulieren kann. (Uli Eulenbruch)


49

King Woman

Created In The Image Of Suffering [Relapse]

Mit recht hoher Wahrscheinlichkeit gibt es pro Jahr eine oder mehrere Veröffentlichungen aus den ansonsten eher abgekapselten Metal und Doom, die den Sprung zu einem breiteren Publikum schaffen. Die Gründe sind vielfältig und gehen von guter Vermarktung bis zur Wahl des Labels. Im Falle von King Woman forscht man am besten in der Vergangenheit von Frontfrau Kristina Esfandiari. Deren Wurzeln im Shoegaze prägen durchaus immer noch das Debütalbum von King Woman. Die holprigen Passagen und der verwaschene Gesang Esfandiaris erweisen sich nämlich als perfekte Ergänzung zu den sich immer wieder aufs Neue auftürmenden Gitarrenwänden. (Felix Lammert-Siepmann)


48

Mount Kimbie

Love What Survives [Warp]

Mount Kimbie hatten schon auf dem 2013er Album „Cold Spring Fault Less Youth“ den Hang dazu, ihre elektronischen Wurzeln ein wenig in den Hintergrund zu stellen und einem Liveband-Feeling den Vortritt zu lassen. Auf „Love What Survives“ verfolgen sie diese Tendenz noch weiter: Mount Kimbies Dubstep-und Minimal-Einflüsse verschieben sich immer mehr in Richtung Indie Rock und Post-Punk und gehen eine wunderbare Symbiose mit diesen Genres ein. Hervorzuheben sind auch die Gastbeiträge: Das obligatorische King Krule-Feature („Blue Train Line“) sticht ebenso heraus wie Micachus Gesang auf „Marylin“. „Love What Survives“ überrascht in punkto Vielseitigkeit und Hitdichte und lässt sich auch nach Monaten unglaublich gut runterhören. (Pierre Rosinsky)


47

Nadine Shah

Holiday Destination [Pias Coop / 1965]

Klar, 2016 war ein Scheißjahr, daran müsste uns Nadine Shah mit dem Song „2016“ auf ihrem dritten Album gar nicht erinnern. Doch die gerade erscheinenden Jahresrückblicke machen deutlich, dass 2017 kein Stück besser war. Nationalistische und rassistische Strömungen erstarken weltweit, Vertriebene und Verfolgte werden in Europa mit Wut und Hass begrüßt – wenn sie es überhaupt soweit schaffen. Dass wir trotzdem gut schlafen, solange die Geflüchteten uns nicht den wohlverdienten Strandurlaub auf Kos ruinieren, treibt die Nordengländerin auf „Holiday Destination“ um – deshalb der Titel. Als Tochter einer Norwegerin und eines Pakistaners sind ihr Rassismus und das Gefühl der Heimatlosigkeit weniger fremd, dementsprechend wütend brodelt ihre tiefe Stimme in Songs wie „Out The Way“ oder „Place Like This“. Nicht weniger fulminant brodelt der perkussive, bis aufs Gerippe entkernte Post-Punk darunter, dessen entfesselte Rhythmen wachrütteln. Den Arschtritt haben wir uns verdient. (Daniel Welsch)


46

Arca

Arca [XL / Beggars]

Arca ist nichts für schwache Nerven, auch nicht das dritte, selbstbetitelte Album. Zwischen faulenden Zähnen auf dem Cover, Drone-Sounds und ohne melodiöse Struktur, die Halt geben könnten, entblößt Alejandro Ghersi seine ganze Verletzlichkeit und stellt sie auf den Präsentierteller. Zum ersten Mal singt er auf „Arca“ selbst – mit einer Brüchigkeit und quälenden Vehemenz, die Schauer für Schauer vom Trommelfell bis in die Zehenspitzen kriecht. Mit „Arca“ ist Ghersi endgültig den Schritt zum multimedialen Performancekünstler gegangen. Eine queere Stimme, die noch lange Standards setzen wird. (Benedict Weskott)


45

The Jesus & Mary Chain

Damage & Joy [Artificial Plastic]

2017 ist absolutes Comebackjahr. 19 Jahre nach „Munki“ sind Jim und William Reid bestimmt noch genau so verkracht wie zuvor, schöpfen aber auf „Damage & Joy“ daraus so erhebliche Kraft, dass The Jesus & Mary Chain keine Relevanz eingebüßt haben. Die Gitarren- und Basslinien pulsieren, die Texte werden von unterschiedlichsten Gastsängerinnen (Sky Ferreira, Bernadette Denning, Isobel Campbell) mit intoniert, die Melodien sind wahlweise zuckerwattig oder kratzbürstig. Dass „Damage & Joy“ mit „Always Sad“ den wohl schönsten unbekannten Sommerhit abgeworfen hat, ist darüber hinaus Zubrot und Lohn zugleich. (Carl Ackfeld)


44

Mount Eerie

A Crow Looked At Me [P.W. Elverum & Sun]

Geneviève Castrée ist tot. Die viel zu früh verstorbene Ehefrau von Phil Elverum ist allgegenwärtig auf „A Crow Looked At Me“ und lässt allen, die zuhören wollen und können keine Chance, sich diesem unglaublich persönlichen Werk zu entziehen. Nah am Ohr, mit waidwunder Stimme nur über einige wenige, kathartische Gitarrenakkorde hinweggesungen durchlebt Elverum die Erinnerungen an die letzten Monate mit seiner großen Liebe. Trauer, aber eben auch Trost und eben die Zärtlichkeit, mit der er die Begebenheiten für seine kleine Tochter konserviert, bescheren Stehhaare und machen es fast unmöglich, „A Crow Looked At Me“ zu ertragen. (Carl Ackfeld)


43

Bonobo

Migration [Ninja Tune]

Bonobo lässt Grenzen verschwinden. Die rein instrumentalen Tracks gleiten dann durch die Weite, während Gesangsfeatures von Rhye, Chet Faker, Nicole Miglis von Hundred Waters oder der marokkanischen Band Innov Gnawa Gänsehaut machen. „Migration“ ist Musik für die Weltenbürger*innen von heute, ein Mix aus Electronica, Ambient und Slow House und Musik von überall und nirgendwo. Bonobos Sinn für Entdeckungen und seine permanente Rastlosigkeit klingen auf der neuen Platte zu jedem Zeitpunkt an. Die Reise um die Welt kann losgehen. (Benedict Weskott)


42

Klein

Tommy EP [Hyperdub]

Wenn der Prolog länger ist als alle sieben folgenden Stücke, deutet das schon an, dass hier jemand im scheinbaren Kurzformat gehörig an Zeit und Form dreht. In zerhackstückelten Anschlägen wandern Pianoläufe bei „Cry Theme“ ebenso einem entropischen Malstrom entgegen wie die an frühe Animal Collective erinnernden Gitarrenhappen in „Everlong“, verhangen von Vocal- und Breakbeat-Loopwölkchen. Anderswo lässt die Londonerin dann aber wieder das Gefühl des graduellen Fortschritts in der Luft hängen, lässt Noten atmungsaktiv im Raum schweben oder tritt mit Stimmschnipseln hypnotisch auf der Stelle. Und läuft da nicht ein Sample im Rückwärtsgang? Viel mehr kann auf einem Album auch nicht passieren. (Uli Eulenbruch)


41

Open Mike Eagle

Brick Body Kids Still Daydream [Mello Music Group]

He rocks. Dass das immer noch zu wenige Menschen begriffen haben, ist dem Umstand geschuldet, dass Michael W. Eagle II (ernsthaft jetzt) keinen Rap macht, der den US-Mainstream aufmischen könnte: kein Trap, keine Cloud, kein nix. Also, fast nix, denn seine Sicht auf die amerikanischen Verhältnisse durch die Augen eines Vorstadtbewohners ist ebenso entlarvend wie unterhaltsam. In „Legendary Iron Hoods“ verblendet er beispielhaft in einem gefälligen, fast oldskooligen Twist die comicartigen Überspitzungen der Supermächte von Marvel-Filmen und der zunehmenden mentalen Unsicherheit. Pop und Bewusstsein gehen hier Hand in Hand. Die AUFTOUREN-Crew hebt den Daumen. Und mal ehrlich: Die Stimme ist einfach auch nur Wahnsinn. (Markus Wiludda)

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