InterviewMeat Wave

Interview: Meat Wave

Die Kernaussage von Meat Waves zweitem Album lautet schlicht und einfach: Menschen sind komplett verrückt. Zugegebenermaßen braucht man keine Band aus Chicago, um das festzustellen – eine einzige Ausgabe der Tagesschau oder ein Auftritt des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump können dies sofort bestätigen. Doch Meat Wave beweisen auf „Delusion Moon“ mehr Verständnis und Einfühlungsvermögen für die Bekloppten, als man von wütendem Lo-Fi-Punk erwarten würde. Weil das Trio weiß: Wenn alle verrückt sind, schließt das uns selbst mit ein.

Dabei wollten Meat Wave ursprünglich gar kein Konzeptalbum aufnehmen und fühlen sich immer noch nicht ganz wohl mit dieser Bezeichnung. Erst als sie am Titelsong „Delusion Moon“ arbeiteten, erkannten sie das verbindende Element der 13 Stücke. „Plötzlich fügten sich alle Songs wie auf magische Weise zusammen“, erklärt Sänger und Gitarrist Chris Sutter im Backstagebereich des Kölner Underground. „Da wurde uns erst klar, dass wir unbewusst ein Album über verrückte Menschen aufgenommen haben.“ Mit dem Song „Delusion Moon“, der das Album wie eine losgetretene Lawine eröffnet, hat die Band außerdem eine kreative Art gefunden, das Thema zu rahmen. Der Titel des Albums spielt auf die sogenannte Mondkrankheit an, nach der die Mondphasen Auswirkungen auf das Wohlbefinden und Verhalten von Menschen haben. „Wir haben bei unseren Jobs in Bars, Restaurants oder als Uber-Fahrer festgestellt, dass bei Vollmond ständig schräge Dinge passieren“, so Sutter, und Drummer Ryan Wizniak ergänzt: „Jeder ist ein klein wenig lauter und aufgedrehter und ständig geht irgendwas kaputt. Bei Vollmond in einer Kneipe weißt du, dass es Scherben geben wird.“

Doch obwohl sie häufig hinter ihnen aufräumen mussten, zeigen Meat Wave auf „Delusion Moon“ überraschend viel Mitgefühl für die Verrückten dieser Welt. So wundert sich Chris Sutter beispielsweise über das seltsame Verhalten der Nutzer von Onlinedating-Portalen, erzählt die Geschichte in „Network“ aber dennoch aus der Sicht eines Nutzers: „I guess it’s on to the next megabyte/ The light of my life through the screen late night.“ Selbstverständlich hat diese Empathie auch ihre Grenzen, wie der Song „NRA“ beweist. „Als es im Dezember 2012 einen Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School gab, bei dem 20 Kinder starben, forderte NRA-Präsident Wayne LaPierre, dass bewaffnete Wächter an Schulen eingestellt werden“, sagt Sutter. „Der Song ist meine Reaktion auf diese Ignoranz und den Bullshit.“

Meat Wave spielen im Kölner Underground
Bild: Andrew Robert Morrison

Da Donald Trump mit ähnlichen Aussagen auf die Terroranschläge in Paris am 13. November reagierte, hat der Song eine traurige Aktualität, als ihn Meat Wave am Sonntag nach den Anschlägen in Köln spielen. „Fürs Protokoll: Trump ist ein verfickter Schwachkopf“, wirft Bassist Joe Gac ein, als wir uns über die Aussagen des Präsidentschaftskandidaten unterhalten. Allerdings schwingt neben der Wut noch etwas anderes mit, wenn Chris Sutter im unverschämt euphorischen Refrain singt: „When will I join the NRA?“ „Natürlich ist das in erster Linie ein makabrer Scherz“, erklärt der Sänger. „Andererseits passiert es immer wieder, dass Menschen plötzlich ihre Meinung ändern und ihre Ideale verraten. Wer weiß, vielleicht trete ich ja wirklich irgendwann der NRA bei. Solche Gedanken können einem ganz schön Angst einjagen.“

Nicht nur inhaltlich schwanken Meat Wave zwischen Wut und Mitgefühl, auch ihre Musik will sich auf „Delusion Moon“ nie so recht entscheiden. Unter der rauen Oberfläche aus Noise, Punk und Garage verstecken sich eingängige, fast poppige Melodien, die sich für kurze Momente immer wieder hervortrauen. Dabei gründeten Chris und Ryan Meat Wave eigentlich als den aggressiven Bruder ihrer zweiten Band Truman & His Trophy. „Mit Truman spielen wir eher melodischen, fröhlichen Kram“, so Ryan. „In der Musik von Meat Wave leben wir dagegen unsere wütende Seite aus.“ Wenn Meat Wave wie in solchen Momenten erzählen, wer mit wem in anderen Bands spielt oder welche Bands aus Chicago Joe Gac bereits produziert hat, kann man schnell den Überblick verlieren. Das Trio ist Teil einer gut vernetzten DIY-Szene in seiner Heimatstadt.

„Es gibt hier viele günstige Proberäume und ebenso viele Orte, an denen Bands auftreten können“, erzählt Ryan Wizniak, als er nach den Gründen für diese lebhafte Szene gefragt wird. Eine andere Erklärung liefert sein Sänger: „Im Gegensatz zu New York oder Los Angeles existiert hier in Chicago fast keine Musikindustrie. Daher hofft hier kaum jemand auf kommerziellen Erfolg – im Gegenteil: Eigentlich sieht jeder seine Band als Zeitvertreib oder Hobby.“ Auch Meat Wave selbst hatten keine großen Ambitionen, als sie im Oktober 2012 ihr selbstbetiteltes Debütalbum veröffentlichten. Erst als Anfang des Jahres das Label Side One Dummy Kontakt zu ihnen aufnahm und sie für einige Shows nach Großbritannien flogen, erkannten Meat Wave, dass diese Band womöglich mehr als nur ein Hobby ist. „Wir hätten nie gedacht, dass wir mal Shows außerhalb von Chicago spielen“, erinnert sich Chris. „Doch dass wir nun sogar durch Europa touren, fühlt sich komplett verrückt an.“ Und da ist es wieder, das Wörtchen, das an diesem Nachmittag sehr oft fällt: verrückt.

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