Mit dem Vorgänger „good kid, m.A.A.d city“ rekapitulierte Kendrick Lamar seine Vergangenheit in Compton als verschachtelte Geschichte über Gewalt, Bandenkriminalität und vor allem übers Erwachsenwerden. „To Pimp A Butterfly“ wagt sich nun an die großen Fragen und komplexen Zusammenhänge dahinter. Gespickt mit Anspielungen an die afroamerikanische (Pop-)Kultur und Geschichte sowie geprägt von den Ereignissen in Ferguson sucht der MC nach einer schwarzen Identität, prangert Rassismus und Unterdrückung an und lässt sich in einer unheimlichen Krönungszeremonie am Ende von seinem Kindheitsidol zum Thronfolger der Westküste ernennen.

Tatsächlich beschreibt man dieses ambitionierte und voraussetzungsreiche Werk am besten vom Ende her, da sich erst im zwölfminütigen „Mortal Man“ das Konzept hinter „To Pimp A Butterfly“ ganz erschließt. Im Gespräch mit seinem Idol Tupac Shakur, dessen Antworten aus einem Interview mit einem schwedischen Radiosender im Jahr 1994 zusammengeschnitten wurden, erläutert Kendrick Lamar nicht nur den Albumtitel, sondern trägt auch das Gedicht „Another Nigga“ erstmals in voller Länge vor, aus dem er zwischen den sechzehn Songs immer wieder zitiert und das diese gliedert und thematisch zusammenhält. Darin spricht er von seinen Selbstzweifeln und Depressionen, dem Gefühl, seine Freunde in Compton verraten zu haben, aber auch dem Wunsch, zurückzukehren und seine Erkenntnisse zu teilen: „The word was respect. Just because you wore a different gang color than mine doesn’t mean I can’t respect you as a black man. Forgetting all the pain and hurt we caused each other in these streets, if I respect you we unify and stop the enemy from killing us.“

Auch im Refrain des jamaikanischen Dancehall-Sängers Assassin zu „The Blacker The Berry“ schwingt dieser Wunsch nach Zusammenhalt mit, doch in den wütenden Strophen poltert Lamar nicht nur gegen den Rassismus von Polizei und Staat, sondern rechnet besonders wirkungsvoll mit der eigenen Scheinheiligkeit und Doppelmoral ab: „So why did I weep when Trayvon Martin was in the street?/ When gang banging make me kill a nigga blacker than me? Hypocrite.“ Ähnlich wie D’Angelos „Black Messiah“ leiht Lamar mit „To Pimp A Butterfly“ den Protesten, die sich vor allem nach der Ermordung von Michael Brown in Ferguson formierten, seine Stimme und so wundert es auch nicht weiter, dass er in „Hood Politics“ einen Kollegen adelt, der sich besonders eloquent und lautstark engagierte: „Critics want to mention that they miss when hip hop was rappin’/ Motherfucker if you did, then Killer Mike would be platinum.“

Eine andere Form des Rassismus beleuchtet der Eröffnungstrack „Wesley’s Theory“, der in Anlehnung an Dave Chappelles Rick-James-Sketch („We should have never gave you niggas money“) Wesley Snipes‘ Niedergang vom gefeierten Schauspieler zum verurteilten Steuersünder erst aus Sicht des Stars, anschließend aus Sicht des skrupellosen und profitgierigen Uncle Sam erzählt und so einerseits Kritik am Umgang der USA mit afroamerikanischen Prominenten übt, aber auch die Gefahren des Ruhms thematisiert. Das Sample von Boris Gardiners Song „Every Nigger Is A Star“ zu Beginn, der Gesang von P-Funk-Legende George Clinton, ein mahnender Telefonanruf von Dr. Dre, der wobbelnde Bass von Thundercat sowie die Produktion von Flying Lotus geben außerdem einen Vorgeschmack auf den anspielungsreichen, gutinformierten Meta-Rap, der einen auf „To Pimp A Butterfly“ erwartet, fordernd – aber auch fast 80 Minuten lang fesselt.

Denn abgesehen von der G-Funk-Hommage „King Kunta“ mit James-Brown-Sample oder der Pharrell-Williams-Produktion „Allright“ gibt es nur wenige geradlinige oder gar eingängige Instrumentals – Hits wie „Backseat Freestyle“ und „Swimming Pools (Drank)“ fehlen dieses Mal komplett. Selbst die äußerst poppige und umstrittene Vorabsingle „i“ erklingt auf „To Pimp A Butterfly“ nur in einer simulierten Live-Version, die so zwar viel mehr Energie versprüht, aber auch nach drei Minuten wegen eines Tumultes im Publikum abgebrochen wird. Stattdessen wechselt der Beat wie in „Institutionalized“ gern mal urplötzlich die Richtung oder klingt wie in „For Free? (Interlude)“ eher wie die Jamsession einer ungemein talentierten Jazzband. Und tatsächlich waren mit Pianist und Keyboarder Robert Glasper, Saxofonist Terrace Martin, dem erwähnten Brainfeeder-Bassisten Thundercat sowie dem Drummer Ronald Bruner Jr. zahllose begnadete Instrumentalisten an der Produktion beteiligt.

Doch der Star dieser Show bleibt Kendrick Lamar. Schon auf dem Vorgänger „good kid, m.A.A.d city“ wechselte er Flow und Stimmlage, um in verschiedene Rollen zu schlüpfen – mit „To Pimp A Butterfly“ treibt er dieses Spiel auf die Spitze. Auch beinahe strukturlose Beats wie in der psychedelischen ersten Hälfte von „u“ bewältigt er spielerisch, in der zweiten rappt er mit schriller, hysterischer Stimme, der man die tiefe Verzweiflung anhört, und die letzte Strophe von „i“ trägt er a cappella vor. Bei aller Vielseitigkeit hat man hier dennoch nie das Gefühl, dass Lamar mit seiner Technik prahlt, vielmehr dass er seinen Sprechgesang stets in den Dienst des Songs stellt.

Selten hat man ein derart selbstbewusstes und mutiges Statement eines Künstlers gehört, das gleichzeitig so von Selbstzweifeln und Unsicherheit geprägt ist. Immer wieder hadert Lamar mit seiner Rolle als Superstar, befürchtet, seine Familie und Freunde verraten zu haben oder konfrontiert sich – ähnlich wie bei „Sing About Me, I’m Dying Of Thirst“ – mit den Aussagen seiner Kritiker. Den absoluten Tiefpunkt erreicht Lamar in der emotionalen Tour de Force „u“, in der er sich mit Selbstmordgedanken in einem Hotelzimmer betrinkt und sich Vorwürfe macht, weil er seinen Freund Chad Keaton nicht im Krankenhaus besuchte, der 2013 an den Folgen eines Drive-By-Shootings starb: „You ain’t no brother, you ain’t no disciple, you ain’t no friend/ A friend never leave Compton for profit or leave his best friend/ Little brother, you promised you’d watch him before they shot him.“ Doch Lamar suhlt sich nicht im Selbstmitleid von „u“, sondern predigt im Gegenstück „i“ Selbstbewusstsein, -behauptung und –liebe und plädiert dafür, das abwertende N-Wort durch den äthiopischen Begriff „negus“ für König zu ersetzen.

Man könnte noch so viel mehr über dieses Album erzählen. Über Lamars Begegnung mit einem Obdachlosen in „How Much A Dollar Cost“, der sich als Gott entpuppt. Oder über Snoop Doggs großartige Slick-Rick-Hommage in „Institutionalized“ und die nicht weniger tolle Strophe der viel zu wenig beachteten Rapsody in „Complexion (A Zulu Love)“. Dieses irre fein geknüpfte Netz aus Referenzen, Zitaten und Anspielungen komplett zu entwirren, würde Bücher füllen – und vermutlich werden diese gerade schon geschrieben. Denn „To Pimp A Butterfly“ ist nicht weniger als ein Meisterwerk, das inhaltlich und musikalisch Maßstäbe setzt, an denen sich (Rap-)Alben in den nächsten Jahren messen müssen.

Als Kendrick Lamar am Ende des Albums Tupac Shakur nach seiner Meinung zum Konzept von „To Pimp A Butterfly“ befragt, verhallt sein Ruf unbeantwortet. Das Idol ist abgetreten, hat den Thron freigeräumt. Als er gefragt wurde, welchen Einfluss seine Musik habe, antwortete Tupac Shakur übrigens einmal: „I’m not saying I’m gonna change the world, but I guarantee that I will spark the brain that will change the world.“ Vielleicht hatte er dabei jemanden wie Lamar vor Augen. Der König ist tot, es lebe der König! „Kendrick Lamar, by far the realest Negus alive.“

4 Kommentare zu “Kendrick Lamar – To Pimp A Butterfly”

  1. Pascal Weiß sagt:

    Daniel, das wollte ich Dir noch sagen: Das hier ist vielleicht die beste Rezension, die ich zu diesem Werk gelesen habe. Dafür vielen Dank!

    Nun noch mal Karten auf den Tisch: Ich bleibe dabei – hier hätte man auch einfach die 100 ziehen können. Aber auch da sind wir ja wieder mal einer Meinung, nehme ich an ;-) King Kunta!

  2. Hui, vielen Dank, Pascal! :) Hat mir viel Spaß gemacht, darüber zu schreiben.

    Wertung hätte gerne höher ausfallen dürfen, da hast du recht. Zumindest eine 90er-Wertung wäre meiner Meinung nach angebracht gewesen – aber das merkt man meiner Kritik ja auch an. ;)

  3. Johannes sagt:

    Hallo,

    mir gefällt die Rezension auch sehr gut, wie kommt es denn zu der 89%-Wertung, wenn Du (Daniel) mehr hättest geben wollen?
    Die 100 wären schon ein übertriebenes Statement, meiner Meinung nach, aber werwiewas sprach gegen 9x?

  4. Hallo Johannes,
    bei höheren Wertungen im LIEBE-Bereich wird die Wertung meist in der Redaktion diskutiert und gemeinsam bestimmt. Hier gab es eben auch einige weniger euphorische Meinungen, weshalb es „nur“ zu 89% gereicht hat. Mal sehen, wo „To Pimp A Butterfly“ dann am Ende des Jahres landet. ;)

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