Le Guess Who? 2014: Die gläserne Indie-Hochburg

Nicht wiederzuerkennen: Als wir vor drei Jahren das Le Guess Who? zum ersten Mal präsentieren durften, hat wohl niemand von uns damit gerechnet, in Utrecht eines Tages die Orientierung zu verlieren.

Genau genommen verliert man sie auch nicht in Utrecht an sich, dazu bietet der durchschlängelnde Wassergraben selbst Leuten ohne eingebautem Kompass genug Wiedererkennung. So war die direkt an der Gracht liegende, atmosphärische Konzertstätte Tivoli Oudegracht in den vergangenen Jahren sowas wie das logische Herzstück dieses Festivals. Hier spielten Neutral Milk Hotel, The War On Drugs oder Panda Bear, während in den Clubs, Bars, Kirchen oder Galerien drumherum Bands und Künstler wie DM Stith, Young Fathers (damals war an den Mercury Prize noch nicht zu denken) oder Moonface vorspielten – jeder Eingang liebevoll gekennzeichnet mit einem lebensgroßen Fragezeichen.

Nunja, das Drumherum gibt es – bis auf die lebensgroßen Fragezeichen – nach wie vor. Insgesamt erstreckt sich das Festival nun über locker zehn verschiedene Spielorte. Ausgerechnet das Tivoli Oudegracht allerdings hat es erwischt. Dafür wurde über die letzten Jahre ein so selten gesehenes gläsernes Hochhaus auf die Beine gestellt, in dem man mindestens ein komplettes Festival-Wochenende Zeit benötigt, um das System hinter all den Rolltreppen, Hintertüren, Aufzügen oder 5, 6, 7 (?) Sälen und Clubs halbwegs verstanden zu haben.

Die Liebe zum Detail ist den Veranstaltenden derweil nie abhanden gekommen: So laufen irgendwo zwischen all diesen Stockwerken William Basinskis „Disintegration Loops“ (Vol. I, wer genau hinhört) über die gesamte Festivaldistanz, bevor auf der nächsten Treppe dichter Nebel aufsteigt, hinter riesigen Glasscheiben liegt die ganze Stadt in ruhigem Licht und Dunkel. Tivoli Vredenburg heißt dieses gigantische neue Gebäude – und könnte durchaus zu einem der Zentren europäischer Indie-Festivals werden.



Dronefest

Wer das System einmal verstanden hat, kann dann problemlos innerhalb von Minuten das Programm wechseln: Keine Lust mehr auf das nun schon eine Viertelstunde andauernde Swans-Riff? Kein Problem, zwei Rolltreppen weiter wartet Mac DeMarcos Jugendclique. Wem das alles zu bunt wird, der wirft sich wenig später einfach mit einer Luftmatratze vor die Bühne und schließt beim 24(!)-stündigen Dronefest mit KünstlerInnen wie Tim Hecker, Julianna Barwick oder William Basinski womöglich Frieden mit den eigenen Gehörgängen, die kurz zuvor von Ben Frost so richtig durchgepustet wurden. Wiedergutmachung ist angesagt.



Iceage

Da kommen auch Iceage ins Spiel, die sich in den vergangenen Jahren vor Publikum oft schwer taten und mit ihrem aktuellen Album auch live eine Art Reifeprozess durchlaufen. Während St. Vincent einen ihrer weniger emotionalen Auftritte hinlegt, wissen besonders Parquet Courts und erstaunlicherweise auch die noch jungen Ought ganz genau, wie sie dem niederländischen Publikum den Schweiß in die Augen treiben – in diesen Momenten wird erstmal so richtig deutlich, wie viele Hits beide Bands auf ihren diesjährigen Alben versteckt haben.



King Gizzard & The Lizard Wizard

Auch die mit Spannung erwartete Women-Nachfolgeband Viet Cong mit ihrem im Januar erscheinenden, großartigen Debüt und die verrückten Australier von King Gizzard & The Lizard Wizard (die die Hälfte ihrer Spielzeit für den ersten Song opfern) im Rahmen des Austin Psych Fests zählen zu den persönlichen Highlights an diesem Wochenende. Umjubelt ist wie immer der exzentrische Auftritt von tUnE-yArDs, auch Perfume Genius hat mit „Too Bright“ eine ganze Menge Publikum hinzugewinnen können, das zeigt nicht zuletzt das dichte Gedränge auf der Treppe.



tUnE-yArDs

Überhaupt fällt auf: Der Sound ist beim Le Guess Who? nahezu überall weit über dem Schnitt, den man sonst so gewohnt ist. Was die Stimmung ein wenig trübt ist wohl einzig die Tatsache, dass einem selten an einem einzigen Wochenende so viele tolle Bands durch die Lappen gegangen sind.

Bilder: Juri Hiensch (Dronefest und Außen- und Innenansicht des TivoliVredenburg), Tom Roelofs (Iceage und King Gizzard & The Lizard Wizard) und Tim van Veen (tUnE-yArDs)

Einen Kommentar hinterlassen

Platten kaufen Links Impressum