Geschmack im leeren Raum: Im weit ausufernden Schatten des Denkmals, das sie sich Anfang der 90er in verschlissenen Anzügen und kaputten Herzen zimmerten, durchliefen die Tindersticks, aus deren Anfangstagen nur noch Nicht-mehr-so-ganz-Nuscheler Stuart A. Staples und Pianist David Boulter übrig geblieben sind, innere Spannungen und menschliche Schwierigkeiten. Ihre musikalische Qualität stand aber (fast) nie zur Debatte.

Im Gegenteil: In den letzten Jahren musizieren die Männer mit den inzwischen grauen Schläfen gern und gut in ihrem abgelegenen Studio irgendwo in Frankreich, feilen an und experimentieren mit ihrer eigentümlichen Vorliebe für Stimmungen und ihrem Mut zu Pathos und Dramatik, mit Jazz, Bossa Nova und dem Alphabet elegischen Weltschmerzes, verkleidet in Easy Listening, ohne easy zu sein. Ihre Stimmungen, das sind heulende Geigen, euphorische Bläser, klingende Glocken, morbide Geschichten von der Liebe und wie sie zum Scheitern verurteilt ist, so dass alles nur noch eine Frage des Stils ist, vom Weinen in Taxen und nicht im Bus, von Champagner, von der gereckten Faust und ihrem Schrei: „Romantik!“, von Einsamkeit und Nacht und Stille.

Die Tindersticks perfektionieren ihre eigene Geschmackssicherheit gekonnt und verspielt auf ihre eigene, traurige Weise. Angefangen mit dem Rezitativ „Chocolate“, von Boulter über leichtfüßige „My Sister“-Klangfarben gesprochen. Neun Minuten, in denen amouröse Tändeleien in existenzialistischer Verzweiflung mit Pop-Affinität, unser aller Boheme-Traum also, behandelt werden. Schwirrende Streicherflächen adeln das galante „Show Me Everything“. Beschwingt und up-tempo entfaltet „This Fire Of Autumn“ einen Sog, den die Vorstellung der Kombination „Tindersticks besingen den Herbst“ ohnehin nahelegt: Stimmiger die Glocken nie klingen. Leider ist Staples‘ Gesangspartnerin bei beiden Stücken, Gina Forster, keine Isabella Rosselini und auch keine Carla Torgerson. Eine leiernde Nachtmusik wie „A Night So Still“ dröhnt leichtfüßig und schwer atmend. Und die Bläser schreiben sich tief in die Seelen der elegant holpernden Rhythmen in „Slippin‘ Shoes“, während Staples gebrochene Herzen feiert. Noch eine leiernde Nachtmusik, diesmal zappenduster und todtraurig: „Medicine“. „Frozen“ türmt auf stetem Autobahnrhythmus sinnige Noiseschichten aus Saxophon, Gitarre und schwelenden Dissonanzen, zu denen Staples‘ Stimme mehr hallt als singt. „Come Inside“ ist eine geschmackvolle Ballade, edel und sinister, wie eine sündhaft teure Einladung zu einer sündhaft dekadenten Abendgesellschaft, nur mit Stil, auch wenn das Saxophon sich arg in den Vordergrund drängt. Ein langsam sich aufbauendes Instrumentalrequiem mit Namen „Goodbye Joe“ beschließt das Album und lässt es zurück im schimmernden Licht der ewigen Dämmerung des Abends.

Geschmack im leeren Raum: (Zu) vielen gilt Geschmack nur als Spielzeug des Selbst, als billiges und willkürliches Accessoire der eigenen Profilierung, wertresistent, jedem zugänglich, beliebig subjektiv und also: unwichtig. Wer aber wissen will, wie geschmackvoll Geschmack doch sein kann und wie stilsicher er sich in ein Kleid aus elegischer Pop-Musik werfen kann, der möge Tindersticks hören. Die frühen vor allem, aber auch gut und gern „The Something Rain“. Dass das Album sich dabei nie aufdrängt, liegt an der Perfektionierung des Geschmacks: Geschmack ist sich selbst (mehr als) genug und braucht keine Anerkennung von außen (Stichwort: Weltschmerz) und keine Selbstdarstellung, sondern ist bereits an und für sich gekonnte Selbstdarstellung und Anerkennung. Das hat keinen Zusammenhang, das nützt keinem, das ist umso geschmackvoller und besser.

75

Label: City Slang

Referenzen: The Walkabouts, The Magnetic Fields, Lee Hazlewood, The National, Nick Cave, Scott Walker

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VÖ: 17.02.2012

6 Kommentare zu “Tindersticks – The Something Rain”

  1. Lennart sagt:

    Das ist mir alles zu geschmäcklerisch. Aber das Album schön.

  2. Aber das Album IST natürlich schön.

  3. Die Worte hör ich wohl, und die sind so schlecht gar nicht. Wenngleich sich das Album allerdings natürlich aufdrängt, schlichtweg weil nur Herr Staples so begnadet und unverkennbar zu singen vermag. Wie dazu freilich die am Ende zusammen gekratzten 75% passen, das will sich mir jedoch nicht erschließen.

  4. Wahrscheinlich sind die Tindersticks für mich der Inbegriff von Geschmack und wenn ich mal geschmacksselig gestimmt bin, also analog zu „I love to love“ den Geschmack schmecke (na ja…), dann wüsste ich dafür kaum einen sichereren Garant als die Tindersticks. Daher drängte sich das Geschmacksgeschwurbel als Aufhänger förmlich auf…

    Und 75%: Nun, ich gebe eine Sympathie zur Band unumwunden zu, so dass es mir nicht schwer fiel, den prozentualen Batzen schön vollzupropfen. Und das gibt das Album auch her, wie ich finde.

  5. Bin ja kein Fan von Bewertungsmethoden, ob nun in Prozenten oder Sternen ausgedrückt. Wie man ein Viertel dieses Hörvergnügen abseits aller Perfektion verorten könnte, geht über meinen Horizont.

  6. Ja, wohl wahr. Bewertungen in Zahlen sind immer nur ein höchst unzulängliches Hilfsmittel. Das fällt mir auch schwer und ohne Willkür kann das nicht vonstatten gehen…

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