AUFTOUREN: 2011 – Das Jahr in Tönen

Liturgy

„Aesthetica“

[Thrill Jockey]

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Transzendenz, Repetition, Versenkung – nicht unbedingt die Worte die einem zuerst einfallen, wenn es um Blackmetal geht. Sunn O))) hatten diesem Genre vor Jahren die Tür zu den Feuilletons geöffnet, indem sie die genrespezifische Energie mit einer minimalistischen Herangehensweise kombinierten. Unter Glockengeläut wurden so ganze Grenzen eingerissen. 2011 betraten auch Liturgy diese große Bühne mit Bravour. In einem eigens verfassten Manifest betitelt Frontmann Hunter Hunt-Hendrix ihre Musik als „Trancendental Black Metal“. Und obwohl er aussieht, als wäre er den
Hansons entlaufen, kreischt er sich doch die Seele aus dem Leib, während im Hintergrund ein Schlagzeuggewitter nach dem nächsten aufzieht. Noch stehen Liturgy im Plattenschrank zwischen Krallice und Mastodon, verdient hätte „Aesthetica“ aber vielleicht sogar einen Platz in der Nähe von Steve Reich. (Constantin Ruecker)


Jamie Woon

„Mirrorwriting“

[Polydor]

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Es hätte auch großes Scheitern bedeuten können, denn Jamie Woon will alles: Romantik und Coolness, Beats und Songwriting, gospeligen Soul und die Nachwehen von klingelndem Dubstep. Er steht dabei mit einem Bein im Untergrund, mit dem anderen im ganz großen Pop. Ein Spagat, der bei anderen Musikern zumindest zu ein wenig Eierkneifen führen würde. Woon jedoch bleibt souverän und lässig und schüttelt nebenher sogar fünf lupenreine Hits aus der Hose. Seine samtig-dunkle Stimme wirkt dabei als Kitt, ist herzlich und ein bisschen gefühlsduselig zugleich. Auf eine ganz subtile Art versprüht „Mirrorwriting“ fast durchgehend majestätische Erhabenheit, was schlichtweg daran liegt, dass Woon ein fantastisches Gespür für die innere Balance von Songs hat. Warum dieser Typ mit diesem umwerfenden Album nicht zum Superstar aufgestiegen ist, gehört zu einem der Mysterien des Jahres. (Markus Wiludda)

Bon Iver

„Bon Iver“

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An Bärten gab es in diesem Jahr kein Vorbeikommen: Fleet Foxes, Josh T. Pearson, William Fitzsimmons und Konsorten ließen keine Möglichkeit aus, ihre Gesichtsfransen ins Griffbrett ihrer Gitarren zu hängen – und ernteten Zuspruch allenthalben. Der vielleicht erfolgreichste von ihnen heißt Justin Vernon. Mit illustren Gästen hat er ein Album aufgenommen, dessen Trackliste aussieht wie ein Tourplan. Kein Wunder, lauschen doch mehr als 3000 Zuschauer pro Konzert seinen angeflauschten Songs, die sich ihre Sehnsüchte und den intimen Gestus früherer Lieder bewahrt haben und immer mehr bieten, als das erste Ohr ausmachen kann: Da gibt es Saxophon-Soli, Marsch-Percussion und freundlich wedelnde Synthesizer. Vor allem aber ein fantastisch empathisches und erstaunlich zeitgemäßes Songwriting. Songs, ganz ohne Bart. (Markus Wiludda)


PJ Harvey

„Let England Shake“

[Island]

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Allzu oft signalisiert dieser Tage, gerade im vereinigten Königreich, die Verbindung von Folk und Gitarre eine pseudoauthentische Befindlichkeitsfixierung oder zelebriert altmodische Biederkeit. Doch Polly Jean Harveys meisterlich unschmeichlerische Ode an ihre Heimat verweigert sich jeglicher Klischees, ohne volkstümliche Instrumentierung verströmt das weit gespannte „Let England Shake“ klamm-historische Mystik. So emotional distanziert wie ihre Gitarre physisch etwas entfernt erklingt, intoniert Harvey verführerisch schöne Melodien zu Songs über Mord und Totschlag, statt verklärender Nationalismus-Romantik enthüllt sie ihr „Beautiful England“ als Imperium, das auf Leichenbergen gebaut wurde – damals wie heute. Im Realisieren künstlerischer Ambition und zugänglicher Songs auf gleich hohem Niveau war dieses Werk 2011 unübertroffen. (Uli Eulenbruch)


Fleet Foxes

„Helplessness Blues“

[Sub Pop]

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Ein Album des Erwachsenwerdens. Eines, das sich so viel mehr von dem Debüt unterscheidet, als manch einer wahrhaben wollte. Vorbei die Zeit des unbeschwerten Aneinanderreihens von zusammenhanglosen Worten, die „White Winter Hymnal” zum wohl bekanntesten Folk-Kanon der 00er Jahre verhalfen. Dafür der Druck, so groß, das Zweitwerk verschoben. Neue Songs sollten her, wieder zurück ins Studio. Nur loslassen, endlich loslassen können. Für „Helplessness Blues“ hat Robin Pecknold Teile seines Privatlebens eingebüßt, wie er nicht erst in dem 8-minütigen Trennungssong „Shrine / Argument“ preisgibt: „In the morning waking up to terrible sunlight / All diffuse like skin abuse the sun is half its size / When you talk you hardly even look in my eyes.” Dass es sich gelohnt hat, daran zweifelt keiner der Beteiligten. (Pascal Weiß)

Gang Gang Dance

„Eye Contact“

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Am Ende des Regenbogens erwartet man gewöhnlich den Goldtopf. Im vergangenen Jahr fand man an eben jener prominenten Stelle „Eye Contact“, das mittlerweile fünfte Album der New Yorker Experimental-Schlauberger Gang Gang Dance. In allen Farben des Regenbogens strahlt ihr verquer-getriebener Indie Rock, der im Grunde gar kein Indie Rock ist, sondern viel mehr Electro-Clash mit Weltmusik-Spurenelementen. Besonders großartig sind Gang Gang Dance vor allem immer dann, wenn sie sich komplett die Kante geben; wie im fantastisch nebulösen Opener „Glass Jar“, der sich erst minutenlang aufbaut, bevor sich die gesamte Spannung in einem infernalischen Kuddelmuddel aus Synthies, Drums und der Stimme von Sängerin Lizzi Bougatsos entlädt. Ähnlich ins Geniale kippt „Mindkilla“, der im Gegensatz zum Opener jedoch deutlich clubtauglicher ist. Nur welcher Club sollte solche Musik spielen? Zu bunt, zu grell, zu gut ist das. (Kevin Holtmann)


Ja, Panik

„DMD KIU LIDT“

[Staatsakt]

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Dieser Titel ist kein Manifest, sondern eine vielgestaltige Wahrheit: „Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit“. Trotz dieser großen Worte findet sich in all den wie immer klugen, koketten und dekadenten Texte von Ja, Paniks vierten Albums so offensichtlich Privates wie noch nie. Aber wen kümmert’s? Hier ist das Private eh politisch, allerdings gänzlich ohne die Masche des „Wer will, schafft (auch die Veränderung)“, ein Dummfug, der im Kapitalismus nur zu gerne breitgeredet wird. Das Resultat dieser „Eigenverantwortlichkeit“ ist der vereinzelte, sich „für ein Handgeld““ ficken lassende Mensch. Ja, Panik ziehen die Kreise um sein elendig widersprüchliches Dasein so eng wie bisher nie, umgehen Phrasen, kritisieren ohne Lösungsvorschlag. Die Frage nach dem eigenen Leben kommt nach dem famosen Schlussstück von allein. (Lennart Thiem)

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James Blake

„James Blake“

[Polydor]

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Das Hype-Thema des Jahres. Und bei soviel Jubelarien folgte natürlich auch der obligatorische Backlash auf dem Fuße. Der könne
ja gar keine anständigen Songs schreiben und die zwei besten Stücke seien eh Coverversionen. Was diese Kritiker dabei allerdings missachteten war, dass es an Stelle der Songs etwas ganz anderes ist, was James Blakes Debütalbum in erster Linie auszeichnet. Der Mut zum Fragmentarischen, zur Leerstelle, zu Momenten der Stille, den der 22jährige hier an den Tag legt, verwandelt die maskuline Wuchtigkeit, die Dubstep naturgemäß anhaftet in etwas Neues, androgyn und zerbrechlich. Das Spiel hingegen, das Blake mit seiner Stimme und Auto-Tune treibt, verhält sich im krassen Gegensatz zu dem, wozu diese Technik im ordinären Radiopop für gewöhnlich missbraucht wird. Dass dabei mit „The Wilhelm Scream” und dem Feist-Cover „Limit To Your Love” zwei Hits raussprangen, die dieser tendenziell eher avantgardistisch einzuordnenden Musik ein breites Publikum bescherten, welches man so nie für möglich hielt, war dabei nur ein netter Nebeneffekt. (Bastian Heider)


St. Vincent

„Strange Mercy“

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Der Wunder-Pop von Annie Clark alias St. Vincent wird auch auf Album Nr. 3 in immer verstiegenere wie schönere Sphären gehievt. Wenn schon mercy, dann strange. Wenn schon Beats, dann schief. Wenn schon zauberhafte Melodien, dann unter einem Berg teils kakophonischer Brüche. Wenn schon Intelligenz, dann Selbstzweifel. Wenn schon Gefühl, dann Schmerz. Annie Clark dienen ihre Stimme und Gitarre als Fundament, um sie dann kraft ihres waghalsigen, verspielten, wunderreichen Genius (warum große Worte scheuen?) in einen Mixer aus Pop-Brimborium, Synthie-Streichern, Beats, Chören, Hall und tausenderlei mehr zu kunterbunten Unikaten der Kunstform Pop-Musik zu vermischen. Ein famoses Album für sich genommen und als Versprechen auf weitere Seiltänze zwischen Schräg- und Schönheit, zu denen St. Vincent sicherlich noch einladen wird. (Sebastian Schreck)


Destroyer

„Kaputt“

[Dead Oceans]

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Man könnte behaupten, dass Dan Bejars Softrock-Visionen auf „Kaputt“, dem nunmehr neunten Album seines Vehikels Destroyer, über jeden Zweifel erhabene Luftschlösser waren. Die neun Stücke wurden getragen von Bejars samtener Stimme, während schmalzig-schöne Saxofone im Kreis tanzten. Jeder einzelne Titel auf dem Werk wirkte wie ein kleiner, nebulöser Fiebertraum, geträumt von einem wahnsinnig genialen Spinner. „Kaputt“ prägte dieses Jahr einen einzigartigen Sound, das ewige Sakrileg Softrock wurde zum ultimativen und unumstrittenen Heilsbringer des Pop-Jahres 2011. Sanft wippende Songs wie das atemberaubend grazile „Suicide Demo For Kara Walker“ sind pure Eleganz und dreisteste Nonchalance. Dazu heißt es bittersüß: „Enter through the exit and exit through the entrance.“ Niemand würde an der Richtigkeit dieser Aussage zweifeln. Von hier aus können Destroyer also in jede erdenkliche Himmelsrichtung weiterreisen: Sky ain’t no limit. (Kevin Holtmann)


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11 Kommentare zu “AUFTOUREN: 2011 – Das Jahr in Tönen”

  1. Zurück zum Beton sagt:

    Oh ja, feine Rezensiönchen, die gekrönt werden vom Drone-Meister Tim Hecker – macht bislang Lust auf mehr. Wenn ihr allerdings den Hecker unter den Top30 verortet, frage ich mich, wo die Grenzziehung zwischen Abseitigem und nennen wir es mal Konsens vs. Mainstream verläuft. Nicht dass ihr euch da im obskuren Bereich befindet, der doch eher dem eigenen Gusto entspricht anstatt irgendwie Geradlinigkeit vorspielt.

  2. Markus sagt:

    [AUFTOUREN-Markus] Danke für den Kommentar, Beton! Ich versuche das noch einmal etwas zu präzisieren: Die Top50 sind wie immer der Redaktionskonsens, erstellt aus den Einzellisten. Tim Hecker wurde von fast allen gehört und gemocht – und taucht entsprechend hier auf. Gleiches gilt ja für Matana Roberts oder The Caretaker, die einfach innerhalb des Teams eine gewisse Popularität erreicht haben. Eine Vorauswahl unter dem Gesichtspunkt „Bekanntheitsgrad“ gab es nicht – obwohl, und das wird sich zeigen, sicherlich die „großen Namen“ dann tendenziell auch weiter oben in der Liste zu finden sein werden.

    In der „Geheimen Beute“ stellen wir euch dann ab Donnerstag 30 Alben vor, die in der Summe noch viel unbekannter sein dürften. Quasi die Spezialistentipps, die selbst für eine Konsensliste bei uns keine Chance hatten. Konsens bezieht sich dabei aber wirklich nur auf die interne Auswahl.

    Wir hoffen einfach, dass die/der ein- oder andere doch noch ein paar Alben entdecken kann. Und wenn wir entsetztes Kopfschütteln ernten, dann diskutieren wir gerne hier in der Kommentarbox ;)

    An dieser Stelle sei auch noch einmal auf die Möglichkeit hingewiesen, bei den Lesercharts mitzumachen – da zeichnet sich dieses Jahr ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen ab.

  3. Johannes sagt:

    Insgesamt schon schöne Charts, unterscheiden sich aber nur geringfügig von denen der 10000 anderen Magazine. John Maus hätte nach meinem persönlichen Geschmack durchaus höher sein dürfen.

  4. Uli sagt:

    Das liegt halt in der Natur von Konsenslisten. Wenn man den größten gemeinsamen Nenner zwischen mehr als drei Leuten (und erst recht wie hier mehr als zehn) bildet, wird man da eher weniger Obskuritäten antreffen.

    Aber u.a. dafür kommt ja noch die ‚Geheime Beute‘ – und natürlich halten die Einzellisten aller Abstimmenden noch ein paar Platten bereit, die es sonst garantiert nirgendwo gibt.

    Maus fand ich einen Tick schwächer im Vergleich zum damals völlig ignorierten „Love Is Real“. Weniger tollkühn, aber auch jetzt keine echte Weiterentwicklung, vor allem die Produktion wirkte stellenweise noch unentschlossen. Muss aber sagen, dass die neuen Stücke live besser rüber kamen als die anderen.

  5. Erik sagt:

    Schade, dass diesmal keine Überraschung auf der Nummer 1 ist so wie letztes Jahr. Insgesamt aber gut.

  6. […] der Top Ten List of Top Ten Lists of Top Ten Lists). Ganz wunderbare Listen wie immer auch bei der Crew von Auftouren, bei den White Tapes-Menschen, bei Laut.de oder der Redaktion der Spex. (Was die Magazine […]

  7. […] ihr damit gefülltes, selbstbetiteltes Debüt im vergangenen Jahr in den Top 20 unserer Lieblingsalben landeten, freuen wir uns natürlich sehr, den Ende dieses Monats beginnenden dritten […]

  8. […] mal einen kleinen Auszug aus den bisherigen Bestätigungen aufzuführen: Mit dabei sind u.a. unsere letztjährige Nr. 1 Destroyer, die noisepoppigen Fuck Buttons, Dirty Three (mit Warren Ellis und Jim White!), […]

  9. […] mal einen kleinen Auszug aus den bisherigen Bestätigungen aufzuführen: Mit dabei sind u.a. unsere letztjährige Nr. 1 Destroyer, die noisepoppigen Fuck Buttons, Dirty Three (mit Warren Ellis und Jim White!), […]

  10. […] den Redaktions-Jahrescharts 2011 und den 30 Alben aus unserer „Geheimen Beute“ gibt es nun noch den ultimativen […]

  11. […] sich nach wochenlangem Abstimmen, hochintellektuellem Debattieren und Haare ziehen endlich auf eine Jahresendliste 2011 geeinigt hat, in der sich alle einigermaßen stark vertreten […]

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