Schöne Träume und verborgene Ängste: Sun Araw in Berlin. Ein Nachbericht.

Wer nicht die genaue Adresse parat hat oder schon einmal hier war, dürfte recht ziellos durch Berlin streunen bis er den unscheinbaren Eingang des West Germany findet. Nach einem Eingangsschild, Leuchtreklame oder sonstigen Hinweisen sucht man hier vergebens. Keine rauchenden Massen vor der Tür, keine Schlange am Einlass. Vor Jahren sollen in dem Haus noch Arztpraxen gewesen sein. Das scheint heute nahezu unvorstellbar. Stattdessen werden Konzerte veranstaltet im dritten Stock dieses blassen Neubaus im Herzen Kreuzbergs. An der Eingangstür lediglich auf einem A4 Blatt der selbst gestaltete Hinweis: Sun Araw / Hype Williams. Sobald man eintritt, bereits die nächste Nachricht: „Abends und tagsüber bitte die Tür abschließen, sonst pissen und junken die Leute im Treppenhaus“.

Sofort steigt einem ein beißender Geruch in die Nase und es wird klar, dass mit dieser Bitte in den letzten Tagen jemand nachlässig umgegangen sein muss. Durch das dunkle Treppenhaus mit den obligatorischen Schmierereien erreicht man schließlich wonach man suchte – und findet die flachen Räumlichkeiten des West Germany. Scheinbar wirklich eine ehemalige Arztpraxis. Weiße Wände und gefliester Boden. Hier ein paar Poster anstehender Konzerte, da recht lieblos im Raum stehende Gartenstühle ohne Polster. Wenig fachmännisch durchbrochene Wände. Heruntergerissene Deckenverkleidungen. Freiliegende Kabel und Heizungsrohre. Trotz dieser ureigenen Atmosphäre darf man den Veranstaltern keinesfalls mangelnde Liebe zum Detail vorwerfen. Klickt man sich durch den Künstlerkatalog der vergangenen Jahre bekommt man stattdessen ein Gefühl dafür, worum es ihnen hierbei gehen muss und was der Ort mit fast allen auftretenden Künstlern gemein hat: Reduktion und Improvisation. Grouper spielte 2009 hier ihr einziges Deutschland-Konzert, Chris Corsano ein beeindruckendes Solokonzert am Schlagzeug. Aber auch inzwischen etablierte Künstler wie Ariel Pink oder Times New Viking, No Age oder Deerhunter machten auf ihrem Weg in die größeren Konzerthallen hier Station und spielten auf der kleinen Bühne aus Bierkästen.

Nun reihte sich am Dienstag Sun Araw zum wiederholten Male in diese lange Liste ambitionierter Künstler ein. Die beiden Wahl-Berliner Hype Williams aus London fungierten dabei als Vorband und konnten im Gegensatz zu ihrem noch recht unausgegoren wirkenden „Untitled“-Album, nicht nur das Publikum mit tiefen, akzentuierten Bässen und einer Portion Charme für sich gewinnen, sondern auch Lust auf das anstehende „Untitled #2“ machen. Letztlich muss man jedoch davon ausgehen, dass ein Großteil des Publikums wegen dem ersten der beiden Deutschland-Konzerte Sun Araws hier war.

Seit dem Erscheinen von „On Patrol“ im April diesen Jahres bekommt das Solo-Projekt Cameron Stallones´ nicht nur die zunehmende Aufmerksamkeit der internationalen Musikpresse, sondern auch ein größtenteils positives Echo von ihr. Es braucht allerdings Geduld sich dieses 75-minütige Monster nach und nach zu erschließen. Schon bald kann es einen dann allerdings gefangen nehmen und vielleicht sogar über mehrere Wochen zu einem treuen Begleiter werden. Die Lieder streunen meist umher wie räudige Hunde, laufen im Kreis oder verirren sich gar. Gleichzeitig schillern sie in den buntesten Farben und wecken ebenso schöne Träume wie verborgene Ängste. Das faszinierende „Conga Mind“ beispielsweise gönnt sich den Luxus eines siebenminütigen Intros, während im fast schon tanzbaren „Beat Cop“ der Gesang Stallones nicht nur unverständlich bleibt, sondern permanent von Störgeräuschen, übersteuerten Bässen, repetitiven Orgel- und Gitarrenmelodien umspült wird. Nahezu alle Sun-Araw-Songs funktionieren auf diese oder eine ähnliche Art und Weise, wobei es meist zur völligen Auflösung der herkömmlichen Songstrukturen kommt. Mit diesen Mitteln ist es Stallones innerhalb von nur zwei Jahren gelungen sich von einem der Geheimtipps musikalischer Abseitigkeit zu einer durchaus anerkannten Größe der amerikanischen Musikszene zu entwickeln. Ein Grund dafür ist sicher auch in der Selbstständigkeit und Unvergleichbarkeit seines bisherigen Outputs zu finden. Eine ähnliche Kombination aus psychedelischen Songstrukturen und Elementen des Dub sucht man bisher vergebens. Selbstverständlich knüpft Sun Araw dennoch an eine lange Tradition ausufernder Musik an, wobei die Vorbilder wie Neil Young, Fela Kuti oder Sun Ra allerdings locker ins 21. Jahrhundert übertragen werden. Künstler mit ähnlichen Herangehensweisen, wie Forest Swords, Pocahaunted oder Emeralds, können zwar durchaus als Anhaltspunkte dienen, haben allerdings allesamt einen anders gearteten Schwerpunkt in ihrem musikalischen Schaffen.

Noch im letzten Jahr hatten Sun Araw ihre Europa-Tour zu dritt, inklusive Drummer, bestritten. Diesmal bestand die Besetzung nur aus Cameron Stallones und seinem Mitstreiter William Giacchi. Beide wechselten während des Konzertes ständig zwischen den Keyboards, ihren Gitarren und den ungezählten Effektgeräten auf dem Boden, während der Drumcomputer oftmals das Gerüst der Songs bildete. Nicht selten erhob sich dann aus dem Gewirr ineinander verstrickter Geräusche der verrauschte Gesang Stallones und er begann mit der mantraartigen Wiederholung kurzer Textpassagen. Bereits auf seinen Alben läuft Sun Araw jedoch zu keinem Zeitpunkt Gefahr die Grenze zur hippiesken Peinlichkeit auch nur ansatzweise zu berühren, wie viele andere Künstler die ihre Werke ebenso in Spiritualität oder meditativen Praktiken begründet sehen. Stattdessen gelingt es Stallones vollkommen selbstständige, kleine psychedelische Meisterwerke ohne jedes falsche Pathos oder Woodstock-Flair zu erschaffen. Dieser Eindruck bestätigte sich auch live zunehmend. Während Hype Williams bei ihrem Auftritt zahlreiche Räucherstäbchen abfackelten und den Raum in dichten Nebel tauchten, konzentrierten Sun Araw sich voll und ganz auf ihre Musik und rutschen trotz des spirituellen Zugangs zur Musik niemals in solch platte Attitüden ab. Es gelang ihnen stattdessen den Raum allein durch die Musik einzunehmen, indem sie Lied für Lied eine Tonspur über die nächste schichteten und diese zu einer unglaublich einnehmenden, warmen Mischung verwoben. Ein beständiges Aufflackern und Verwehen der Töne. Kaum hat ein Instrument einmal die Führung übernommen, tritt es wieder zurück und reiht sich ohne zu murren wieder in den umfassenden Klangteppich ein. Noch einmal ein kurzes, letztes Auflodern der Melodie, dann das nächste Stück.

Am ehesten vermittelt das raue 2009er Livealbum „Geneva Hits“ einen Eindruck der intensiven Liveperformance Sun Araws. Auch in Berlin wurden nahezu alle enthaltenen Stücke zum Besten gegeben. Darunter übrigens auch das Cover des Neil Young & Crazy Horse-Songs „Barstool Blues“. Es sollte der vorletzte Song dieses Abends sein und Cameron Stallones verblüffte ein weiteres Mal, indem er seine Stimme auf die Höhe des jungen Neil Youngs empor hievte. Danach kam nur noch ein ausuferndes Instrumental. Als letztes vernahm man dann die Worte eines Mädchens aus dem Publikum: „AMAZING!“. Oder habe ich mir das nur eingebildet? Ich hatte die Augen noch geschlossen. Danach schaute ich auf meine Uhr: 0.30 Uhr. Aber das war ohnehin nicht von Bedeutung. Ein zeitloser Abend, zeitlose Musik.

7 Kommentare zu “Schöne Träume und verborgene Ängste: Sun Araw in Berlin. Ein Nachbericht.”

  1. philip sagt:

    schöner artikel! das west germany ist super, war u.a. bei dem angesprochenen grouper konzert auch anwesend.

  2. Smell sagt:

    Dieser Laden müsste auch echt mal wieder was für mich sein;)

  3. Sven sagt:

    Zuletzt bei Former Ghosts dagewesen. Ein Dreckloch, aber was für eins! Wärest du aufs Herrenklo gegangen, hättest du den geköpften Wasserhahn gesehen, nur notdürftig mit Gaffatape abgeklebt.

    Ein feiner Artikel, der uns tief in diese dunkle Kaschemme führt, offenbar mit passender Musik.

  4. constantin sagt:

    Jaja, das West Germany ist schon eigen, aber eben auch immer einen Besuch wert, wenns um gute Musik geht.
    Leider stehen da in nächster Zeit erstmal keine weiteren Konzis der Sun Araw-Größenordnung an.

  5. kate mossad sagt:

    schade, dass west germany mittlerweile auch immer ein paar euro teurer ist als noch vor 2-3 jahren. die von hype williams gespielten sachen waren übrigens zum großteil keine tracks eines kommenden albums sondern von der bereits 2009 erschienenen s.e.a.l / acid elle cd-r.

  6. […] Dilettantismus und der allgegenwärtigen Polarisierung, die sie damit stiften. Auch live verstecken beide sich gern hinter einer Flut aus einfachsten und effektiven Melodiebögen, Bässen und dicken […]

  7. […] Grenze zwischen Realität und Fiktion, beispielsweise wenn sich Dean Blunt and Inga Copeland bei Konzerten von Schauspielern vertreten […]

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